2003

Gespräch

… mit einem Psychotherapeuten

Derselbe Michael Meier, der das Gespräch mit Paul Vollmar für den Tages-Anzeiger (TA) geführt hatte, interviewte auch den Psychotherapeuten Kurt Wiesendanger. Der TA vom 23. August 2003 veröffentlichte dieses Gespräch unter dem Titel "Kirche treibt viele in Depressionen":1

"[...] TA: Wie wirkt sich [...] das Homo-Papier des Vatikans, das die Schweizer Bischöfe Paul Vollmar und Kurt Koch verteidigt haben, gerade auf junge Schwule und Lesben aus?

KW: Das hat absolut verheerende Wirkungen. Da müsste sich die Kirche im Klaren sein: Damit treibt sie viele Menschen in tiefe Depressionen. [...] Die Suizidrate unter homosexuellen Jugendlichen ist viermal grösser als bei heterosexuellen. Die katholische Kirche und die Bischöfe hätten da eine enorm grosse Verantwortung.

TA: Ist es nicht umso verwerflicher, eine Gruppe zu dämonisieren, die zu den Opfern des Holocaust gehört?

KW: Absolut. Die Gewalt gegen Homosexuelle geht allerdings in unserem Kulturkreis noch viel weiter zurück als bis zum Nationalsozialismus. Homosexuelle haben insbesondere den katholischen Inquisitionsbehörden einen hohen Blutzoll bezahlt.

[...] TA: Was ist denn der Grund für die ausgeprägte Homophobie in der katholischen Kirche?

KW: Die katholische Kirche hat ein grundsätzliches Problem mit der Sexualität. Sie definiert seit je, was in der Sexualität gut und böse ist. Dies ganz gegen das Selbstverständnis Jesu, der sich mitnichten zu irgendeiner Art von Sexualität geäussert hat, auch nicht zur Homosexualität. Die katholische Kirche muss in Sachen Homosexualität einen besonders grossen Spagat machen, weil hier, wie das Studien belegen, der Prozentsatz des homosexuellen Personals jenen der Gesamtbevölkerung deutlich übersteigt. [...] Er liegt bei katholischen Geistlichen um 20 bis 25%. Das aber darf nicht sein. Und darum wird umso vehementer dagegen angekämpft.

TA: Im Prinzip geht es also um verinnerlichte Selbstablehnung [...]: Homophobe Geistliche kämpfen gegen sich selber und projizieren ihr Problem nach aussen.

KW: Genau. [...] Es geht um die unbewusste Angst vor der Infragestellung der eigenen Identität. Homophobie hat ganz zentral mit Angst zu tun: Angst, die eigene Macht, die eigene Identität zu verlieren. [...]"

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Ernst Ostertag, Oktober 2008

Quellenverweise
1

Tages-Anzeiger, 23. August 2003