Newsletter 159

März 2023

Diese Ausgabe enthält die folgenden Themen:

  • Vor 50 Jahren: HASG (Homosexuelle Arbeitsgruppe St.Gallen)
  • Erinnerungen an die HASG

Vor 50 Jahren: HASG (Homosexuelle Arbeitsgruppe St.Gallen)

eos. Ein Rückblick auf die Zeit der beginnenden Homosexuellen-Emanzipation in der Ostschweiz hat René Hornung verfasst. Er war damals am Entstehen der HASG beteiligt. Seine Schilderung ist eine willkommene Ergänzung zur detaillierten Geschichte der HASG in unserer Website und den Hinweisen darauf im Newsletter 39 vor zehn Jahren.

Erinnerungen an die HASG

Rosa von Praunheims Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" war der eigentliche Geburtshelfer auch der Homosexuellen Arbeitsgruppe St. Gallen (HASG). Er lief am 15. Januar 1973 spät nachts in der ARD - das Bayerische Fernsehen hatte sich abgekoppelt. Ein paar Tage später, auf einer Cruising-Tour in Konstanz, war der Film und seine Schlussszene mit dem Aufruf zur Gründung neuer Schwulengruppen Thema zwischen zwei Studenten. Einer studierte in Konstanz, der andere in St.Gallen. Es war der Funke, der - ein knappes Jahr nach Gründung der Homosexuellen Arbeitsgruppen Zürich (HAZ) - die Gründung der HASG auslöste. Sie verstand sich anfänglich als grenzüberschreitende Gruppe Konstanz/St.Gallen.

Die schwulen St.Galler Studenten (lauter Männer) trauten sich selber aber nicht, öffentlich aufzutreten. Res Strehle, späterer Chefredaktor des Tages-Anzeigers, spielte Geburtshelfer. "Ich gründete die Homosexuelle Arbeitsgruppe mit, weil kein Schwuler sich im damaligen St.Gallen öffentlich hätte outen können. Das brachte mir eine Denunziation an der Wandzeitung der HSG und viele männliche Verehrer ein", schrieb Strehle in einem persönlichen Rückblick auf die 1968er-Jahre.1

Aufruf in der Studentenzeitung

In der St.Galler Studentenzeitung Prisma wurde zum Mitmachen aufgerufen. Man sei offen für alle, Männer und Frauen, egal ob homo- oder heterosexuell, hiess es dort. Die Stimmung zur Gründung einer Schwulengruppe war günstig. Doch es gab umgehend Proteste. Ein früherer Rektor der HSG kündigte sein persönliches Prisma-Abonnement. Er sei nicht bereit, ein Mitteilungsblatt für Homosexuelle zu unterstützen. Und es gab Streit mit dem Rektorat, das keine schwule Studentengruppe dulden wollte, schon gar keine, die sich HASG nannte: die Verwechslungsgefahr mit der offiziellen Abkürzung HSG sei zu gross. Das Rektorat forderte ausserdem Statuten, die den ausdrücklichen Schutz von Minderjährigen festhalten. Man werde - so die Hochschulleitung - "nicht zögern, einzugreifen, falls die Tätigkeit Ihres Vereins zu begründeten Klagen ausserhalb des akademischen Bereiches Anlass geben würde bzw. sich für die Hochschule nachteilig erweisen würde".

Die HASG blieb aber ihrem Namen treu und vernetzte sich mit den anderen in diesen Jahren entstandenen HA-Gruppen zur Dachorganisation HACH. Sie wurde im Dezember 1974 gegründet. Zwar löste sich die HASG bald aus dem studentischen Umfeld, doch die Grundsatzpapiere von damals lesen sich im typischen Jargon der 1968er-Bewegung:

"Ausgehend von den Erfahrungen einer zum Teil falschen linken studentischen Hochschulpolitik, die ihren wesentlichsten Aspekt - die Politisierung und Kontaktaufnahme mit der Basis, das Eingehen auf die Bedürfnisse der Betroffenen - leider allzu oft aus den Augen verliert, ist unseres Erachtens folgender Weg zur Organisierung und Aktivierung von Homosexuellen einzuschlagen: Konfrontation der zum grössten Teil unpolitischen, wenn nicht sogar reaktionären, Homosexuellen mit ihrer Situation und ihren Verhaltensweisen, die aus der gesellschaftlichen Unterdrückung resultieren."

Es brauche Treffpunkte und Freiräume. Und weiter:

"An den Grenzen dieser Freiräume wird es immer zu Auseinandersetzungen kommen, woraus folgt: diese Auseinandersetzungen sind als Emanzipation der diskriminierten Gruppe, der Schwulen, zu führen." 2

Die Stadtpolizei interessiert sich

Die HASG-Gründung löste nicht nur im Umfeld der Hochschule Irritationen aus. Die Post hatte Bedenken, dass die Zuteilung eines Postfachs das "sittliche Empfinden" stören könnte. Schwierig war auch die Lokalsuche. Die Polizei - informiert aus Zeitungsberichten, die die HASG vorstellten - erkundigte sich bei der Wirtin eines Restaurants, in dem sich die Gruppe traf. Als die HASG davon erfuhr, protestierte sie und der Stadtpolizeikommandant antwortete:

"Es ist unter anderem Aufgabe der Polizei, sich im Zusammenhang mit der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung über kriminalsoziologisch bedeutsame Gruppen zu informieren. Zu diesen Gruppen gehören an sich auch solche, deren Ursprung Perversionen sind. Wie auch Ihnen bekannt sein dürfte, können geschlechtliche Verirrungen (im Sinne von Abweichungen von einer biologischen Norm) kriminogene Faktoren sein. Daher unser allgemeines Interesse an einer organisierten Gruppe Homosexueller."

Bei der Wirtin habe man interveniert, weil das Gastwirtschaftsgesetz zur Aufrechterhaltung von Ordnung und guter Sitte verpflichte.3

Ein knappes Jahr nach ihrer Gründung zeigte die HASG Praunheims Film in St.Gallen und mobilisierte damit neue Leute - so viele, dass drei Arbeitsgruppen gebildet wurden: Selbsterfahrung, Öffentlichkeitsarbeit und Kultur. Alle drei Wochen traf man sich zur Plenumssitzung. Während sich ein Teil der meist jungen Männer in der Selbsterfahrungsgruppe mit ihrem Coming-out und ihrer Situation im Beruf auseinandersetzte, entstanden aus der Vernetzung mit den Gruppen in anderen Städten immer wieder neue Flugblätter und Aufklärungsbroschüren. Aus dem Kontakt mit kirchlichen Institutionen ergaben sich öffentlich ausgeschriebene Treffen im Schloss Wartensee, dem damaligen Tagungszentrum der evangelischen Kantonalkirche.

Vier Jahre nach der Gründung, 1977, war die HASG besonders aktiv. So intervenierte der spätere Gastronom der "Letzten Latern", Urs Tremp (1952-2014), zusammen mit seinem damaligen Partner zum Beispiel beim Schweizer Fernsehen mit der Aufforderung, den erst von der ARD ausgestrahlten Film "Die Konsequenz" von Alexander Ziegler ebenfalls ins Programm aufzunehmen. Indem das Schweizer Fernsehen sich bisher geweigert habe, bevormunde es die Zuschauer. Protestiert wurde 1977 auch gegen eine Folge der Krimiserie "Der Alte", in der es unter anderem um einen kriminellen Homosexuellen ging. Das Schweizer Fernsehen organisierte dann im April 1978 die legendäre "Telearena" zum Thema Homosexualität.

Mit Obelix vors Bundesgericht

Zur bekanntesten Aktion der HASG wurde der Versuch, das Aufklärungsmagazin anderschume auf der Strasse zu verteilen. Auf dem Titelbild prangte Obelix mit einem Hinkelstein in Penisform. Die städtische Gewerbepolizei lehnte im Herbst 1977 ein Gesuch für einen Stand ab: das Titelbild des Magazins sei "unsittlich". Der Stadtrat machte im Rekursentscheid zwar durchaus schwulenfreundliche Überlegungen, nahm dann aber doch seine Behörde in Schutz. Schliesslich landete der Fall im März 1979 vor Bundesgericht - auch hier ohne Erfolg für die HASG. Das Gericht hielt zwar fest, dass die Diskriminierung von Homosexuellen noch bestehe und die homosexuellen Organisationen deshalb zu Recht Aufklärungsarbeit trieben. Allerdings sei es den örtlichen Behörden überlassen, was sie als "unsittlich" bezeichnen.

Weniger Politik - mehr Partys

Im Herbst 1977 entstand auf Initiative des erwähnten Urs Tremp in einem leerstehenden Gewerberaum das "Alternativzentrum" mit regelmässigen Disco-Abenden am Freitag. Der Ort nannte sich wie sein Zürcher Vorbild "Zabi". Die strengen politischen Ziele der Gründungsjahre nahm man nun aber lockerer. Man wolle den "Newcomern ausdrücklich nicht mehr die bisherige 68er-Politik aufoktroyieren", wie es in den Jahreszielen der HASG für 1977 heisst.

In den frühen 1980er-Jahren fanden HASG-Partys in der "Grabenhalle" statt, einer ehemaligen Turnhalle – bis heute einer der alternativen St.Galler Veranstaltungsorte. Mit Performances und teils schrillen Auftritten tingelten HASG-Männer auch quer durch die damalige Schweizer Schwulenparty-Szene. Zum zehnjährigen Jubiläum organisierten die HASG 1983 das Fest mit dem Titel "Schwules Sprungbrett". Zu diesem Anlass gaben einzelne Mitglieder dem St.Galler Tagblatt zwar Auskunft über ihre Situation, aber mit Namen trat niemand auf. Die HASG - so wird im Zeitungstext festgehalten - verlange von ihren Mitgliedern, dass sie "Energie zeigen, sich für die Emanzipation zu engagieren" 4, man müsse also eine Schwelle bereits überschritten haben. Die St.Galler Partys der 1980er-Jahre galten eine Zeit lang selbst in Zürich als Geheimtipp.

Die Arbeitsgruppe schläft ein

Während immer weniger Treffen der Arbeitsgruppe stattfanden und die HASG zu einer blossen Postfachadresse verkam, verlagerten sich die Aktivitäten einzelner Mitglieder in den Kulturbereich. Ab den späten 1980er-Jahren fanden in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Kino Xenix im St.Galler Kinok mehrere schwul-lesbische Filmreihen statt.

Selbst Jahre nach der vermeintlich breiten Akzeptanz gab es noch Vorbehalte: Ende der 1990er-Jahre kam es noch einmal zu einem Namensstreit an der inzwischen in Universität St.Gallen umbenannten Hochschule. Als sich dort eine neue studentische Gaygruppe zusammenfand, wollte sie sich HSGay nennen. Wieder lehnte die Universitätsleitung dies ab und begründete es, wie schon 1973, mit der Verwechslungsgefahr: HSGay unterscheide sich zu wenig von HSG. Die Gruppe heisst heute Unigay.

Die HASG gab später ihr Postfach auf – und verschwand damit von der Bildfläche. Heute gibt es in St.Gallen und in der Ostschweiz zahlreiche neue Gruppen, darunter Unigay, Otherside, s’bunte Grüppli, St.Gallen Pride, HOT (Homosexelle Arbeitsgruppen Thurgau), Queer Thurgau, die Regionalgruppe Ostschweiz/FL (St.Gallen) von Network, sowie kleinere Gruppen wie gay christians meetup St.Gallen und die lesbische Gaymeinde. Im weiteren Umkreis der Ostschweiz existieren Flay im Fürstentum Liechtenstein und das sozialwerk.LGBT+ in Buchs und Chur.

Mehr zur HASG auf schwulengeschichte.ch
HASG St.Gallen
Gründung
Emanzipation
Bis vor Bundesgericht

1 Res Strehle: "68, aber lieb". In: Das Magazin, Nr .12/2008.
2 Schwulenarchiv Schweiz: Umdrucker-Manuskript, anonym und nicht datiert. Dossiers Ar 36.76 und 36.138
3 Original im Schwulenarchiv Schweiz, a.a.O.
4 St.Galler Tagblatt, 8. April 1983