Newsletter 174

Juni 2024

Diese Ausgabe enthält die folgenden Themen:

  • Buchbesprechung: Der Urning - Selbstbewusst schwul vor 1900
  • Neue Biografie: Patrik Schedler
  • schwulengeschichte.ch an der Zurich Pride 2024

Buchbesprechung: Der Urning - Selbstbewusst schwul vor 1900

eos. Am 7. Juni 2024 wird ein Buch zu Jakob Rudolf Forster (1853-1926) erscheinen. Bei ihm handelt es sich um einen der wichtigsten schweizerischen Pioniere der Schwulenemanzipation. Natürlich gibt es auf unserer Website in der 2. Epoche "Weg zur Selbstbestimmung" auch ein Kapitel über ihn. Die beiden Autoren des neuen Buches forschten jahrelang und fanden viele bisher unbekannte Dokumente zu Forsters Leben und Lebensumständen, die den Blick auf jene Zeit verändern und berichtigen. Wir konnten daher auch unsere bisherige Darstellung auf der Website korrigieren.

Wir danken den beiden Forschern und Autoren für ihre grosse Arbeit. Sie, René Hornung und Philipp Hofstetter, verfassten auch den folgenden Newsletter-Text und setzten einen dem Juni entsprechenden Titel:

Der erste Pride-Mensch der Schweiz

Mit "Der Urning - Selbstbewusst schwul vor 1900" erscheint im renommierten Verlag Hier und Jetzt im Pride-Monat Juni ein Buch, das einen Blick auf eine weitgehend unbekannte Zeit des homosexuellen Lebens in der Schweiz wirft. Die Autobiografie des Protagonisten Jakob Rudolf Forster und zahlreiche erhalten gebliebene Originaldokumente zeichnen ein Bild von Verfolgung, aber auch von Widerstand, Aufbruch und Mut.

"Justizmorde im 19.Jahrhundert - Wahrheitsgetreue Darstellung des fast unglaublich verfolgten Schweizers J. R. Forster, Heiratsvermittler von Brunnadern (St. Gallen)". So lautet der Titel von Forsters Autobiografie, die er 1898 im Eigenverlag publizierte. Er beschreibt darin seine Jugend im ländlichen Toggenburg, seine Adoleszenz in St. Gallen, seine Reisen und das spätere Leben in Zürich. Über das letzte Drittel seines Lebens im Zürcher Kreis 4 gibt es leider keine Quellen mehr - und es liess sich auch kein Bild von Forster finden.

Jakob Rudolf Forster (1853-1926) wächst in Brunnadern in der Ostschweiz, auf und er beschreibt, wie er lieber mit den Mädchen spielte. Als er sich seines Schwulseins bewusst wird, ist er anfänglich ob dieser "Liebesrichtung" besorgt. Doch dann trifft er auf seiner ersten Reise nach Deutschland schon am deutschen Bodenseeufer in Friedrichshafen einen Bahnbeamten, mit dem er nicht nur die Nacht verbringt, sondern der ihm auch eine der Schriften des Privatgelehrten Karl Heinrich Ulrichs mitgibt. Ulrichs hat für mannmännliches Begehren den Begriff "Urning" geprägt. Er gilt deshalb und auch wegen seines öffentlichen Einstehens für Akzeptanz als erster Homosexueller der Weltgeschichte.

Weil der Bahnbeamte darauf hinweist, dass Ulrichs in Stuttgart wohnt, reist Forster dorthin, nimmt mit Ulrichs Kontakt auf und wird bald in ein erlauchtes "Kränzchen" aufgenommen, in dem wöchentlich über urning'sche Liebe diskutiert wird - nur theoretisch, wie Forster ausdrücklich erwähnt. An diesen Kreis von Intellektuellen findet der in armen, ländlichen Verhältnissen aufgewachsene Forster offenbar leicht Anschluss, und er wird danach selbst zum engagierten Aufklärer. Er darf deshalb als einer der ersten Vorkämpfer gegen die Verfolgung der Homosexuellen und für gleiche Rechte bezeichnet werden - nach aktuellem Wissensstand der erste in der Schweiz überhaupt. Forster war ein Vorläufer einer bis heute andauernden Emanzipationsgeschichte. Er verfügt zwar nur über eine bescheidene Schulbildung, eignet sich aber autodidaktisch eine ausdrucksstarke Sprache an, über die auch die Ärzte und Psychiater staunen, die ihn später begutachteten.

Doch Gesellschaft und Behörden reagieren mit Repressionen und Klagen auf Forsters Aufklärertätigkeit. Denn im ausgehenden 19. Jahrhundert wird mannmännlicher Sex nicht nur bestraft, sondern auch umfassend geächtet. Forster wird unterdrückt, gedemütigt, verfolgt, verhaftet, verurteilt, bestraft, abgewiesen, ausgewiesen, eingewiesen, weggesperrt, denunziert und bedroht. Doch gegen jeden Strafbefehl, gegen jede Ausweisung aus einer Stadt oder einem Dorf wehrt er sich. Oft durch alle Instanzen bis zum Bundesrat, so dass der Vorsteher des Eidgenössischen Justizdepartements 1886 in einem Brief an den St.Galler Regierungsrat Forster als "sehr anrüchiges, wenn nicht gänzlich irrsinniges Subjekt" tituliert und loswerden will.

Forster wird mehrmals von Gerichten verurteilt und lernt die Gefängnisse in St.Gallen, Zürich, Winterthur und Meilen kennen. Ein Jahr muss er auch in der damals berüchtigten Arbeitserziehungsanstalt Bitzi im Toggenburg, Kanton St.Gallen verbringen. Seine Schilderungen der Zustände in den Anstalten sind einmalige Zeitzeugnisse. Und sie zeigen, wie damals mit unbequemen Zeitgenossen umgegangen wurde. Die Behörden hätten Forster am liebsten nach Südamerika verbannt, doch auch dagegen wehrte er sich.
Zuerst lebte Forster vom Honighandel, war dann Heiratsvermittler, später "Agent" und Treuhänder. In seiner Autobiografie beschreibt er, wie er auch beruflich verfolgt wurde. Aus den zahlreichen Archivakten lassen sich seine Schilderungen in der Autobiografie ergänzen und präzisieren: Die über 400 Seiten Prozessunterlagen gegen ihn sind ebenso erhalten wie Materialien aus den zwei Psychiatrischen Kliniken St.Pirminsberg, Pfäfers (SG) und Burghölzli, Zürich.

Forster hatte ein reges Liebesleben. Das zeigt sein kleines blaues Notizheft mit dem Titel "Meine Geliebten". Hier notierte und nummerierte er seine Bekanntschaften und Liebschaften - und die Nummerierung reicht bis 145. Weil dieses Heft bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt und viele der dort notierten Männer verhört wurden, ergibt sich ein bisher unbekanntes Bild von Treffpunkten und vom Charakter mannmännlicher Liebschaften im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Das Buch "Der Urning - Selbstbewusst schwul vor 1900" zeigt, dass homosexuelle Identität zu Forsters Zeit nicht mit dem heutigen Verständnis gleichzusetzen ist. Homosexualität hat selbst eine Geschichte und in Forsters Lebenslauf sind unterschiedliche Phasen erkennbar, die zeigen, wie er sich selbst und die Reaktionen der Gesellschaft auf seine Sexualität wahrnimmt. Zwei Entwicklungen prägen die für Forster wichtigen Jahre im späten 19.Jahrhundert: Zum einen beginnt der Staat das Strafrecht zu modernisieren, zum anderen beschäftigt sich die Wissenschaft zunehmend mit der Frage, was Sexualität bedeutet. In diesem Umfeld ist es beeindruckend, wie sich Forster durch sein Leben schlug.

Die Autoren:
Philipp Hofstetter wuchs im Toggenburg auf und promovierte in Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als freischaffender Historiker, Autor und Archivar in Zürich.

René Hornung studierte Volkswirtschaft und arbeitet als freier Journalist in St.Gallen. Er war für zahlreiche Magazine als Redaktor und Produzent tätig.

Das Buch:
Philipp Hofstetter, René Hornung: DER URNING - Selbstbewusst schwul vor 1900, Verlag Hier und Jetzt, Zürich, 384 Seiten, 133 s/w und farbige Abb. gebunden, Fr. 44.-.

Mehr auf schwulengeschichte.ch:
Jakob Rudolf Forster
Karl Heinrich Ulrichs

Neue Biografie: Patrik Schedler: Impulsgeber, Galerist

eos. Im Mai 2024 hat Franco Battel die Biografie von Patrik Schedler, Mitgründer des Schwulenarchivs Schweiz (sas), für unsere Biografien-Rubrik verfasst und auch die Illustrationen dazu geliefert.

Patrik Schedler war mit dem Fotografen Karlheinz Weinberger befreundet und wurde nach dessen Tod 2006 Verwalter des umfangreichen Foto-Nachlasses, der nun zum Teil im Schwulenarchiv eingelagert ist. Weinberger war ab 1952 unter dem Namen Jim als "Hoffotograf" des KREIS ein wichtiges Mitglied der damaligen schwulen Getto-Kultur lange bevor er für seine Aufnahmen von "Bikern" und "Halbstarken" berühmt wurde.

Patrik Schedler war auch ein philosophisch interessierter und versierter Mensch. Meine Erinnerungen an lange, tiefgründige Gespräche mit ihm bleiben unvergesslich.

Mehr zum leider viel zu kurzen, aber intensiven Leben von Patrik Schedler in der Biografie:
Patrik Schedler: Impulsgeber, Galerist und die Freundschaft mit Karlheinz Weinberger / Jim

schwulengeschichte.ch an der Zurich Pride 2024

dbr. Am 14. und 15. Juni 2024 ist schwulengeschichte.ch jeweils ab 16 Uhr am Network-Infostand an der Pride in Zürich präsent. Wir möchten die Website noch bekannter machen und neue Vereinsmitglieder anwerben.

Vor allem nutzen wir die Gelegenheit, um Kontakte mit Menschen zu knüpfen, die Geschichten zu erzählen haben, die auf der Website noch nicht erzählt werden. Damit soll die Website noch umfassender werden!

Wir freuen uns auf euren Besuch.

Mehr über die Vorläufer der Zurich Pride auf schwulengeschichte.ch
CSD und Gay Pride
CSDs nach 1981
Diesjähriges Programm und Ablauf auf der Website der Zurich Pride