1929/1931

Parlament

Diskussion in National- und Ständerat zur Straffreiheit homosexueller Akte unter Erwachsenen

Zum Art. 169 des neuen StGB gab es in beiden Räten aufschlussreiche, interessante Voten über Bestrafung oder Freigabe homosexueller Handlungen unter Erwachsenen.

In der Frühjahrs-Session konnte sich der Nationalrat am 13. und 14. März 1929 nicht einigen (gemäss "Stenographisches Bulletin der Bundesversammlung") und vertagte das Geschäft auf die Winter-Session. Während dieser Pause kam es zu Anhörungen von Fachleuten, wobei der bekannte Strafrechtsprofessor Ernst Hafter mit seinem Aufsatz "Homosexualität und Gesetzgeber" die eigentliche Wende herbeiführte.

Am 3. Dezember 1929 wurde abschliessend die Freigabe unter Erwachsenen mit 73 gegen 47 beschlossen. Der Ständerat folgte in seiner Herbst-Session am 23. September 1931 knapp mit 18 gegen 15 Stimmen.

Aufschlussreich während der teilweise hitzigen Diskussionen sind Äusserungen von Parlamentariern christlicher Parteien, die sich mit Verlautbarungen ähnlicher Kreise bis in unsere Tage decken. Es waren zur Hauptsache nicht juristisch relevante Argumente, sondern "Gefühlsregungen", wie es Professor Ernst Hafter ausdrückte - doch Gefühle sollten Gesetze nicht bestimmen.

Die Voten der Befürworter zeugten von Aufgeschlossenheit gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen und vom Willen, sie zu berücksichtigen. Das geht deutlich aus den Reaktionen auf die im Sommer erfolgte Anhörung von Vertretern des Vereins für Psychiatrie und die Lektüre des Aufsatzes von Prof. Ernst Hafter hervor.

Jedoch: Die generelle Linie beider Lager, vor allem im Ständerat, bewegte sich unmissverständlich auf einen Kompromiss hin, wonach mit der Entkriminalisierung homosexueller Akte, mit dem speziellen Schutzalter 20, jegliche "Propagandatätigkeit", jegliches "In die Öffentlichkeit Treten" von Homosexuellengruppen oder Einzelpersonen "nicht mehr nötig" sei und von der "Volksauffassung" auch nicht geduldet würde. Das hiess: Die leidige Tatsache Homosexualität sollte unter den Teppich gewischt und dort verborgen bleiben.

Mit dem Inkrafttreten des StGB wirkte sich das Tabu entscheidend auf jedes homosexuelle Leben in der Schweiz aus und führte Ende der 50er Jahre, als es plötzlich aufbrach, direkt in akute gesellschaftliche Ächtung und eine polizeiliche Repression, die einer Demokratie unwüdig ist.

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Ernst Ostertag, Mai 2005