1960-1975
Bern: Wo man sich traf
Anständiges und Mieses
In der Festschrift zum Zwanzigsten Jubiläum des Ursus Club Bern schrieb ein "Röbi":1
"Soweit ich mich noch erinnern kann, wurde in der ersten Hälfte der 60er-Jahre für die Schwulen Berns noch gar nichts organisiert. Es gab das 'Bali', da konnte man hingehen, ein Bier trinken und zuweilen auch 'jemanden' kennen lernen. Das Publikum war sehr gemischt, da gab es Stricher, Schwule, Lesben und natürlich auch Heteros, welche wohl aus Neugierde kamen.
Dann gab es im Marzillibad an der Aare den sogenannten 'Zwetschgegrill'5, das Männerbad mit seinem Holzrost zum 'sünnele' . Und nicht zu vergessen die Bundesterrasse6, wo man vor allem abends spazieren ging. Das waren eigentlich die einzigen schwulen Treffpunkte. Natürlich musste alles immer im Verborgenen passieren und es war oft auch nicht einfach, Kontakt zu finden. Stundenlang spazierte man herum."
Bevor es zum Drogenumschlagplatz verelendete, war auch das Schänzli neben der Bundesterrasse ein bekannter Treffpunkt. In seinem Heft "Unentwegt emanzipatorisch, Vereinsgeschichte 20 Jahre HAB, 1992" schrieb Erasmus Walser, der ab 1975 selbst aktives Mitglied der HAB war:2
"Ein weiteres Mitglied der HAB formulierte seine Beobachtungen von ferne: 'Unwillkürlich erinnert mich die Stricherszene auf dem Schänzli ans Einkaufen im Supermarkt: in Reihen stehen formbetont und plastic-häutig verpackte Waren zur Selbstbedienung feil. Nur im Halbdunkel statt im Neon. Menschen zu Sexzwecken als Marktobjekt, bereit, die Packung aufreissen zu lassen und … Natürlich zum entsprechenden Tarif. [...]
Für alle, welche [...] das Lebensmittel 'Sex and Love' nicht im Heimwerk zu entwickeln vermocht haben? Für den, der [...] als sexwirtschaftlicher Bankrotteur allein geblieben ist?
Die Stricher dagegen verschleudern [...], ähnlich jungen Drittweltstaaten unter dem Druck der Weltwirtschaft, ihre Naturschätze, bzw. ihr Frischfleisch, solange es noch marktwertig zu spielen vermag. Käufer sind ja vorhanden, deren stille Partner 'Einsamkeit & Sehnsucht' allemal auf ihre Auszahlung harren…' "
Etwas anders war die Reaktion des Gründers der Schweizerischen Republikanischen Bewegung, Nationalrat James Schwarzenbach. Zu Beginn der 70er-Jahre wurde er von einem HAB-Aktivisten nach seiner Meinung über Schwule gefragt. Erasmus Walser berichtete:3
"In einem Strasseninterview gab ein verdutzter James Schwarzenbach zum besten, auch einem Schwulen müsse man beibringen, er könne, wenn er nur wolle, sexuell auch mit einer Frau glücklich werden."
Dem gegenüber äusserte sich ein 18-jähriger Lehrling im HAB-Info vom Juni 1975:
"Ist es für uns wirklich nötig, gewisse Gefühle für Liebe, Freundschaft, Verständnis und Toleranz zuerst in uns abzutöten, um überhaupt als lebensfähig zu gelten? Ich glaube nicht, dass jemand ermessen kann, wie satt ich es habe, meiner Umwelt ständig etwas vorzumachen. [...] Was haben wir Andersgearteten eigentlich vom Leben zu erwarten? Können Sie mir sagen, wer da verrückt ist, ich oder meine Umwelt? P.S. Sie sind noch meine letzte Hoffnung!"4
Ernst Ostertag, Oktober 2006
Weiterführende Links intern
Quellenverweise
- 1
Festschrift zum Zwanzigsten Jubiläum des Ursus Club Bern, Seite 3, 1988
- 2
Erasmus Walser, Unentwegt emanzipatorisch, Vereinsgeschichte 20 Jahre HAB, 1992, Seite 20
- 3
Erasmus Walser, Unentwegt emanzipatorisch, Vereinsgeschichte 20 Jahre HAB, 1992, Seite 13
- 4
Erasmus Walser, Unentwegt emanzipatorisch, Vereinsgeschichte 20 Jahre HAB, 1992, Seite 9
Anmerkungen
- 5
Zwetschge, ein Ausdruck für Schwule
- 6
Direkt vor dem Bundeshaus, also sozusagen unter den Augen von Parlament und Regierung