1993

Integration mit Protest

… an der Kirchensynode

Am 23. Mai 1993 konnte - erstmals im Grossmünster - eine Morgenfeier für Lesben und Schwule stattfinden, durchgeführt vom schmaz (Schwuler Männerchor Zürich) und der HuK (Homosexuelle und Kirche).

Sie war gedacht sowohl als öffentlicher Gottesdienst wie als religiöse Feier für die Teilnehmer des "Europäischen SchwuLesbischen Chorfestivals", das zu diesem Zeitpunkt (zum ersten Mal) in der Schweiz abgehalten wurde. Die Organisation des Festivals lag in den Händen des schmaz; für jene des Gottesdienstes fand die HuK Zürich bei den zuständigen kirchlichen Behörden offene Ohren und Herzen. Der musikalische Gottesdienst in der vollbesetzten Kirche löste auch ein deutliches Echo in den Medien aus.

Das empfanden allerdings evangelikale Kreise als Verrat am Symbol der Zürcher Reformation. Sie formulierten ihren öffentlichen Protest bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit, der Synode der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich vom 15. Juni 1993.

Der Tages-Anzeiger berichtete unter dem Titel "Die Spannungen in der Kirche nehmen zu, Evangelikale Erklärung in der reformierten Synode löst Empörung aus."1 In einem Kasten stand diese Erklärung abgedruckt unter der Überschrift "So haut Gott ab":

"Die Evangelisch-kirchliche Fraktion protestiert entschieden dagegen, dass die Kirchenpflege Grossmünster dem schwullesbischen Chorspektakel erlaubt hat, am 23. Mai das Grossmünster für eine musikalische Morgenfeier zur Verfügung zu stellen.

Das Grossmünster ist unser gemeinsames Symbol für die Zürcher Reformation. Es ist beschämend, wenn das Grossmünster im Namen der Toleranz den Schwulen überlassen wird, obwohl Gottes Wort in Römer 1 klar gegen männliche und weibliche Homosexualität Stellung nimmt. Oder um es mit dem Reformator Huldrych Zwingli zu formulieren: 'Die Sünden-Krankheit weiss von sich selbst nichts; sie weiss nicht, dass sie eine Krankheit ist; sie meint, es sei ihr alles erlaubt, wonach sie gelüstet. Nicht so denkt Gott. Sondern wenn die Krankheit alles an sich reisst und glaubt, alles müsse ihr dienen, alles ihrer Begier unterworfen sein, so haut Gott mit dem Rebmesser des Gesetzes solche Auswüchse ab.'

Die evangelisch-kirchliche Fraktion protestiert dagegen, dass das biblische und das reformatorische Erbe aus Feigheit im Grossmünster verraten worden ist."

In seinem Bericht zum Verlauf der Synode schrieb Peter Walther im Tages-Anzeiger unter anderem:2

"Den im Zürcher Rathaus versammelten Synodalen verschlug diese Erklärung buchstäblich den Atem; einer vermochte schliesslich 'Pfui!' zu rufen. Dann war es an Kirchenrätin Brigitte Lauffer, ihre Erschütterung auszudrücken. Sie habe selber an dieser Gottesdienstfeier teilgenommen und sei tief beeindruckt worden. Ihre Schilderung wurde von den Synodalen mit lang anhaltendem Beifall quittiert.

Pfarrer Thomas Wipf erklärte, im Zentrum des christlichen Glaubens stehe die Hoffnung und Liebe, die keinen Menschen ausgrenze. Der Synodalverein könne die Erklärung der evangelisch-kirchlichen Fraktion nicht hinnehmen und behalte sich eine spätere Reaktion vor. Auch der designierte Kirchenratspräsident Ruedi Reich zeigte sich erschreckt und bat die Fraktion, doch auf ihre Erklärung zurückzukommen. Erfolglos. Die Fraktion liess sich dazu nicht mehr verlauten. [...]"

Sprecher der Evangelisch-kirchlichen Fraktion war der Zürcher Pfarrer und Historiker Dr. Ewald Rieser.

"Laut Rieser wollte die Fraktion mit ihrer Erklärung nicht gegen Menschen vorgehen, wohl aber gegen falsche Lehren. Der prophetische Auftrag gegenüber der Gesellschaft lasse sich eben nicht immer mit dem seelsorgerlichen an den Menschen zusammenbringen."3

Als Pfarrer Thomas Wipf am CSD vom 29. Juni 2002 in Zürich - zu dieser Zeit war er Ratspräsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) - in einem Statement die Anwesenden mit der für ihn "einzig möglichen Anrede: Liebe Brüder und Schwestern!" begrüsste, löste er bei der fundamentalistischen Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA) "Unverständnis und Bedauern" aus über diese "Anbiederung". Der CSD 2002 hatte zum Motto "We are family". Man stand vor der Volksabstimmung über das kantonalzürcherische Partnerschaftsgesetz. Es wurde im September angenommen.

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Ernst Ostertag, Oktober 2007

Quellenverweise
1

Tages-Anzeiger, 16. Juni 1993

2

Tages-Anzeiger, 16. Juni 1993

3

Fritz Imhof, idea magazin, Zeitschrift von Freikirchen und evangelikalen Gemeinschaften, Nr. 11, 9. Juli 1993, Seite 7