Manifest
Revolution der Moral
Auf den Tod unseres wohl bedeutendsten Vertreters, Kämpfers und Vorbildes in der Schweiz - und weit darüber hinaus -, zum Abschied von Karl Meier / Rolf erschienen zwei Nachrufe, einer von Eugen Laubacher / Charles Welti1 und der andere in der Doppelnummer von Ambros Pfiffig / Ambros Velthur und Ernst Ostertag / Stefan E. Pasquo.2
Beide "Erinnerungen an einen Pionier" liessen von unterschiedlichen Standpunkten aus Leben und Werk dieses grossen Menschen aufleuchten und beide wollten es den jungen Generationen nahebringen und ihnen bewusst machen, dass sie im gemeinsamen Streben um Anerkennung und Akzeptanz nicht die ersten und einzigen sind.
Im hey Nr. 10 vom Oktober 1974 erschien "Kampf Seite an Seite", ein Aufsatz, der eigentlich in der Zeitung Plädoyer hätte stehen sollen, nun aber dem hey eine revolutionäre Note gab.3 Er stammte von Françoise d'Eaubonne und war Teil ihres: "Manifest für die Revolution der Moral", Frankreich 1971. Zu Beginn zitierte die Verfasserin den "Verteidigungsminister der US Black Panther Partei", H. P. Newton:
"[...] Ich weiss aus [...] meiner Erfahrung, dass es in der Gesellschaft Platz und Verständnis gibt, um von der Freiheit der Homosexuellen zu sprechen. Sie sind die vielleicht am meisten unterdrückte Gesellschaftsklasse. Die Liga für die Befreiung der Frauen und der Homosexuellen ist eine Liga von Freunden, und wir brauchen solche Verbündete."
Dann fuhr sie fort mit einem Zitat aus dem Flugblatt "Frühlingsoffensive", das 1971 von der amerikanischen GLF (Gay Liberation Front) in Frankreich verteilt worden war. An diesem Flugblatt sei folgende Passage besonders bemerkenswert, wo ausgesagt werde:
"Dass 'die menschlichen Beziehungen, die in den sexuellen Rollen gründen, die Männer auf Angriffslust und Schlägerei und die Frauen auf eine untergeordnete Stellung festlegen. Die Gesellschaftsform brandmarkt alle, die diesem Schema ausweichen wollen, als Päderasten und Aussenseiter. Die Homosexuellen sind in ihrer eigenen Kultur Aussenseiter. Den wahren Frieden erreicht man nur durch Ablehnung der sexuellen Rollen, d.h. durch Ablehnung dieser Gesellschaft.'
Hier zeigen sich die Verflechtungen der verschiedenen revolutionären Ideen [...]. Die Frauen werden sich ihrer Unterdrückung bewusst und erkennen, dass sie die gleichen Feinde wie die Neger und die Homosexuellen haben."
Aus dem Manifest von Françoise d'Eaubonne noch einige weitere Abschnitte, die ein zwar extremes, aber der damaligen Stimmung des Aufbruchs entsprechendes Bild abgeben. Ein Bild, das den damaligen Intentionen nicht nur der Frauen, sondern vieler schwulen Aktivisten genau entsprach:
"Die männlichen Homosexuellen sind viel weniger die natürlichen Feinde der Frauen als die Heteros, die so oft und leicht zu Hetero-Polizisten werden.
Eine Frau unserer Zeit, in welchem Land, Klasse und Kultur sie auch lebt, 'verdankt' deshalb den grössten Teil des Unglücks, der Misserfolge, der Demütigung und der Ohnmacht, die sie bedrängen, der Gegenwart und dem Zusammenstoss mit den Heterosexuellen, handle es sich nun dabei um den Vater, den Mann oder den Liebhaber. [...]
Die scheinbare Toleranz, die der homosexuellen Frau entgegengebracht wird, ist nur der Ausdruck der gesellschaftlichen Verachtung. Für die Welt, wie einst für Königin Victoria, gibt es keine weibliche Homosexualität, höchstens eine etwas schlüpfrige Homophilie. [...]
Ich glaube, dass diese Gruppen die Leitung der revolutionären Bewegung haben sollten: [...] Die Gruppen der Frauen und der homosexuellen Männer. [...] Die Sexualität, die beiseite gestellt und zum Problemfall verstümmelt in die kleinbürgerliche Schlafstube gedrängt wurde, rächt sich, wie sie es schon mit den Kirchen und allen, die sie verneinten, getan hat: sie höhlt sie von Innen aus. [...]
Das Einstehen für die Empfängnisverhütung und die Abtreibung wie die Verteidigung der männlichen erotischen Minderheit ist keine Behinderung einer von Zwängen befreiten Forschung noch des sozialen wie politischen Aufstiegs der Frau. Im Gegenteil, diese parallel laufenden Bestrebungen und Kämpfe werden sich im gemeinsamen Ziel vereinen: Der Zerstörung der patriarchalischen Familie als Grundstein unserer Gesellschaft und deren Ersatz durch eine Gegeneinrichtung, die dem Kampf der Geschlechter, der Unterdrückung der Frauen und Homosexuellen [...] ein Ende setzt. Ist es da nötig, zu unterstreichen, dass zu diesem Zeitpunkt Kapital und Bürgertum nur noch Erinnerungen sein werden?"
Damit sind wir - Ende 1974 - im Zentrum des grossen Aufbruchs angekommen. Was aus diesen Positionen und ihrer Stosskraft dann in die Öffentlichkeit getragen und welche Veränderung dort bewirkt wurde, sind die Themen der Jahre von 1975 bis 1983.
Ernst Ostertag, Juni 2006
Weiterführende Links intern
Quellenverweise
- 1
hey, Nr. 4/1974, Seite 4
- 2
hey, Nr. 7/8/1974, Seite 10
- 3
hey, Nr. 10/1974, Seite 20 ff