Newsletter 36

Dezember 2012

Diese Ausgabe enthält folgendes Thema: 

  • Kolumne: Mammina, unsere Urmutter

    

Mammina, unsere Urmutter

eos. Eine unerschrockene Frau steht am Anfang der schweizerischen Schwulen- und Lesbenbewegung. Zusammen mit einer Mitkämpferin gründete sie 1931 die erste Vereinigung von homosexuellen Frauen in unserem Land. Ein knappes Jahr später wurden auch Männer aufgenommen. Die hatten es schwerer, denn Sex unter Männern, egal welchen Alters, war damals noch gesetzlich verboten und konnte zu Existenzverlust und Gefängnis führen. Frauen erwähnte das Gesetz nicht.

Die Vereinigung nannte sich Damen-Club Amicitia. Ab 1932 nur noch Amicitia mit dem Zusatz "Schweizerischer Freundschafts-Verband (SFV)". Nun gab sie auch eine Zeitschrift heraus (Newsletter 33).

Die Gründerin war eine mutige Frau. Sie hiess Fräulein Anna Vock. Auf dem "Fräulein" bestand Anna Vock sehr bewusst, denn dadurch sei klar, dass sie "ohne Mann durchs Leben" komme. In der Zeitschrift gab sie ab 1933 ihren Namen mitsamt Postfachadresse als Sitz von Redaktion und Verlag bekannt.

Doch ein Jahr später büsste sie deswegen Arbeitsstelle und Wohnung ein, weil das Hetzblatt Scheinwerfer gegen die "herrlichen Damen" und "dämlichen Herren" loszog und Anna Vocks Name und Adresse veröffentlichte. Sofort schoss sie zurück und reichte Klage wegen Ehrverletzung ein (Freundschafts-Verband). Als das Nachfolge-Hetzblatt Guggu 1936 die homophobe Kampagne wieder aufnahm, wehrte sie sich erneut, diesmal mit einem offenen Brief, den sie mit den Worten beendete:

"Ich fürchte Ihre giftige Feder nicht, denn ich habe nichts mehr zu verlieren. Um Stelle und Brot haben Sie mich bereits gebracht und ich kann nun va banque spielen." (Folgen: Guggu)

Typisch für Anna Vock war die erste Begegnung mit dem Neuling Karl Meier / Rolf, den sie aufforderte, doch nicht so scheu bei der Türe stehen zu bleiben: "Chömmed Si e chli under d'Lüüt - oder tüend Si frömde?". Wenig später war er bereits ihr engster Mitarbeiter und noch später gründete und leitete er den KREIS. (Karl Meier)

Ebenso typisch war die Art ihres praktizierten Katholizismus. Sie kannte einen verständnisvollen Priester "weitab im Thurgau". Zu ihm ging sie beichten, bei ihm holte sie geistliche Führung. Und freimütig erzählte sie davon, wenn einer fragte. (Homosexuelle Christen)

Mit Karl Meier zusammen zog sie den Karren auch dann unbeirrt weiter, wenn es nur noch ein knappes Dutzend Mitglieder gab. Sie glaubte an eine Zeit der Akzeptanz, auch wenn sie wusste, dass die wirklich hellen Tage der Befreiung erst nach ihrem Tod kommen würden. Es blieb ihr Verdienst, die Bewegung angestossen zu haben. Das war ihr genug. Später wurde sie von allen "Mammina" genannt. Ein Ehrentitel, den sie gerne hörte.

Sie starb vor 50 Jahren, am 17. Dezember 1962. Bis zuletzt blieb sie die einzige Frau im KREIS, von der alle wussten, die alle ehrten. Wir erinnern uns noch gut an die grosse Kerze, die Karl Meier / Rolf für Mammina entzündete, als wir ausserhalb der Stadt einen Ort für die Weihnachtsfeier vom 23. Dezember finden mussten, weil Zürich uns vertrieben hatte. Wir fanden uns - einmal mehr - im Exil zusammen; eine kleine Schar, aber fest entschlossen zum Kampf in eine hellere Zukunft. Schliesslich waren wir jetzt Mamminas Erben. (Krippenspiele 1961-1966)

An dieser Weihnachtsfeier nahm Karl Meier / Rolf "Abschied von Mammina" (veröffentlicht in Der Kreis 1/1963). Dabei erklärte er u.a.:

"Wir müssen sagen, dass der KREIS wohl nicht bestehen würde, hätte sie nicht in der schwierigen Zeit, als das neue schweizerische Gesetz noch nicht galt, ihre ganze Persönlichkeit eingesetzt für das, was sie als Recht erkannt hatte. [...] Es war eine Zeit, in der im Kanton Zürich und in manch anderen Kantonen der Schweiz auch der volljährige Mann noch unter dem Damoklesschwert der Strafbarkeit stand, nur [...] die Frau nicht. So konnte sie es wagen, verantwortlich für die kleine Zeitschrift zu zeichnen. [...] Sie scheute keinen Gang zur Behörde, um für eine mögliche Kontaktnahme Veranstaltungen durchführen zu können. Sie verlor - und zwar nicht nur einmal! - ihre Arbeitsstelle [...]. Sie wählte in ihrer tapferen Geradlinigkeit und Unbekümmertheit immer die Unsicherheit und gab nie auf. [...]
Und trotzdem, welcher Humor war dir eigen, Mammina, wie er eben nur aus einem guten Herzen kommen kann. Wie konntest du lachen über unsere Fehler und wie über die deiner Kameradinnen! 'Es menschelet halt überall'. [...]
Leb wohl, Mammina. Dein Name wird in der Schweiz für immer mit unserer Sache verbunden bleiben. Du hast den Boden bereitet, auf dem wir weiter bauen müssen. Wir hoffen, dass es uns gelingen wird."

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