1959
Prozess: gebeugte Justiz
"Sieg der Menschlichkeit" ...
Im Nachlass von Eugen Laubacher / Charles Welti fand sich unter vielen Zeitungsausschnitten auch ein bebildeter Artikel zum Ausgang des Prozesses.1 Die Überschrift hiess:
"Das Urteil im Schwurgerichtsprozess Rinaldi: SIEG DER MENSCHLICHKEIT"
"[...] Rinaldi, der, als 'Opfer eines Opfers' bezeichnet, vom Staatsanwalt im Sinne der vorsätzlichen Tötung angeklagt wurde, ist von den Geschworenen nach mehrstündiger Beratung der fahrlässigen Tötung schuldig erklärt und vom Gericht mit einer zehnmonatigen bedingten Gefängnisstrafe nach 14 Monaten entlassen worden. [...] Er durfte am Arm seines Vaters, der aus [...] einem armseligen Tal bei Bergamo nach Zürich kam, den Gerichtssaal verlassen und die Gratulationen von Landsleuten, aber auch von Dutzenden von Schweizern entgegennehmen. [...] Betend sassen die Angehörigen auf der Gerichtstribüne, während der Obmann den Wahrspruch verkündete. [...] Selten zeigte sich [...] eine solche Ergriffenheit wie bei diesem Fall, nachdem das Urteil verkündet war und ein bleicher junger Mann seinen Richtern dankte… [...]"
Im Kreis blieb die Reaktion nicht aus:2
"[...] Es wurde ein - nicht nur uns! - unverständliches Urteil gefällt: 10 Monate bedingt, weil die Geschworenen dem Mörder fahrlässige Tötung (aus Wut und 'Ekel') zubilligten [...] obschon der junge Italiener an jenem Abend zehn Minuten lang in einem Pissoir gestanden und sich nachher beim Besuch halbnackt ausgezogen hatte, ohne, wie er sagte, zu wissen, was ihn erwartete. [...] Dem KREIS-Kameraden, der in staatsbürgerlicher Verantwortung sofort nach der Tat der Polizei seine Beobachtungen mitgeteilt hatte, wurde als Dank dafür in der Presse rachsüchtige Eifersucht als Motiv seines Handelns vorgeworfen und alle Homosexuellen gesinnungsmässig dem von jeher als verantwortungslos bekannten Ermordeten gleichgestellt. Diese Vorgänge und die unsachlichen und ungerechten Presseberichte haben den nachstehenden Versuch einer Klarstellung ausgelöst, der allen wesentlichen Schweizer Zeitungen mit der Bitte um Abdruck übersandt wurde."
Einleitend wurde in dieser Klarstellung "auf die bestürzende Anzahl irreführender Verallgemeinerungen" hingewiesen, um dann mit Zitaten des Strafrechtslehrers Prof. Ernst Hafter und des Psychiaters Prof. Eugen Bleuler abzuschliessen.
Die Zuschrift eines Abonnenten G.B. aus Bern unter "Der Kreis - ein Kampf- und Aufklärungsblatt?":3
"[...] Der 'Erfolg' jener Bemühungen (die Klarstellung): Bis zur Drucklegung hatten 3 Redaktionen den Abdruck abgelehnt, die anderen haben ihn totgeschwiegen und wahrscheinlich dem Papierkorb übergeben.
[...] Wäre von der Umwandlung unserer Zeitschrift in ein Kampf- und Aufklärungsblatt irgendeine Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu unseren Gunsten zu erwarten?
[...] Das Urteil bleibt ein Fehlurteil, [...]. Es wäre sicher anders ausgefallen, wenn das Opfer - bei sonst genau gleichen Umständen - eine Frau gewesen wäre. Wer aber glaubt, solcher Unverstand und solche Voreingenommenheit könnten durch 'Aufklärung' beeinflusst und geändert werden, gibt sich einem Trugschluss hin. [...] Es ist Schicksal jeder Minderheit, unverstanden zu sein und missachtet zu werden; die sexuelle Minderheit ist diesem Schicksal fast unentrinnbar ausgesetzt, weil hier das Tabu mitwirkt, mit dem alle 'Sünde des Fleisches' durch die jüdisch-christliche Morallehre seit Jahrtausenden behaftet ist. Jeder Versuch der Aufklärung muss bei der Mehrheit der 'normal' Empfindenden eine fast instinktive Abwehrreaktion auslösen: man will gar nicht aufgeklärt werden. [...]"
Ernst Ostertag, September 2005
Weiterführende Links intern
Quellenverweise
- 1
Aus der illustrierten Zeitung Sie und Er, Nr. 14 vom 2. April 1959. Diese Illustrierte gab der Ringier-Verlag von 1929 bis 1972 heraus
- 2
Der Kreis, Nr. 4/1959, Seite 3, gezeichnet mit "Die Redaktion"
- 3
Der Kreis, Nr. 5/1959, Seite 2