Newsletter 124
April 2020
Diese Ausgabe enthält folgende Themen:
- Vor 30 Jahren am Pranger: Beamte, die sich mit dieser Liebe nicht abfinden können
- Generalversammlung des Vereins schwulengeschichte.ch verschoben
Vor 30 Jahren am Pranger: Beamte, die sich mit dieser Liebe nicht abfinden können
eos. Wir stecken in einer Krise, sie betrifft unsere Gesundheit und geht alle an. Das "Corona"-Virus kennt keine Unterschiede und keine Grenzen. Heute gilt nationaler Notstand. Lesben und Schwule mit Jahrgängen vor 1970 kennen Krisen, die nur ihre Community betrafen. In der Aids-Krise war ihre Gesundheit extrem gefährdet und sehr viele starben auf grauenvolle Weise. Zwanzig Jahre zuvor ging es um ihre Existenz und die Stellung in einer Gesellschaft, die sie generell ausgrenzte und wie Verbrecher behandelte.
Vor 40 Jahren hatte die Community die Abschaffung des systematischen Registriertwerdens in Karteien der Polizei erreicht. Es war das Ende der Repression. Kurz darauf stand sie am Anfang einer neuen Krise, dem Kampf gegen das tödliche Virus HIV. Und gleichzeitig führte ein Polizei-Korps die Repression einfach weiter. Es registrierte heimlich auf eine extra dafür konzipierte Weise. Erst 1990 flog das perfide Tun auf. Dieser Geschichte wollen wir etwas nachgehen. Sie ist spannend, denn erstmals wehrten sich Schwule in aller Öffentlichkeit und fanden in breiten Kreisen Unterstützung.
"Nicht die Liebe zwischen Männern gehört an den Pranger gestellt, sondern das Verhalten von Beamten, die sich mit dieser Liebe nicht abfinden können" (Berner Zeitung BZ vom 27. April 1990)
Der erste Christopher Street Day (CSD) in der Schweiz wurde am 24. Juni 1978 durchgeführt, neun Jahre nach dem Stonewall-Aufstand. Es wurden Unterschriften gesammelt für die Petition zur Abschaffung der Zürcher Schwulenregister. Am 1. Februar 1979, ein gutes halbes Jahr später, wurde die Homokartei offiziell als aufgehoben und vernichtet erklärt. Im Sommer desselben Jahres gab es den Ersten Nationalen Schwulenbefreiungstag in Bern, an dem die Abschaffung der polizeilichen Homoregister in der Bundesstadt gefordert wurde. Ein Jahr später, am 14. Juni 1980, erklärte der Polizeidirektor der Stadt Bern öffentlich, dass die Registereintragungen entfernt werden. Niemand erwähnte die Berner Kantonspolizei und deren Kommandant schwieg.
Diskrete Erhebungen durch Polizeistreifen
Dieses Korps hatte kurz zuvor, am 1. Juni 1977, mit einer systematischen Registrierung von Homosexuellen begonnen. Dem Fahndungs- und Informations-Dienst des Polizeikommandos des Kantons Bern war bewusst, dass sein Vorgehen kaum legal ist, denn die offizielle Weisung enthielt den Satz: "Da in den meisten Fällen keine strafbaren Handlungen vorliegen, müssen die Erhebungen diskret erfolgen." Diese Erhebungen wurden durch Polizeistreifen an einschlägigen Treffpunkten vorgenommen. Die Beamten befragten die Aufgegriffenen, nahmen deren Personalien und Lebensumstände auf und trugen sie in vorgedruckte Meldekarten ein. Die Meldekarten enthielten elf Punkte zum Signalement sowie die Rubriken "weitere Besonderheiten", "Bemerkungen". Auf der Rückseite folgten Angaben zum Ort, wo der Mann aufgegriffen wurde, mit wem er verkehrt, liiert oder verheiratet ist oder ob er als Stricher lebt und das gewerbsmässig tut. Diese ans Dritte Reich erinnernde Systematik der Erfassung zog das Berner Korps dreizehn Jahre lang durch bis zum 25. April 1990 und registrierte eingehend und peinlich genau meist willkürlich aufgegriffene und nach Gesetz unschuldige Bürger. Lesbische Frauen gehörten nicht ins Registrier-Schema, was Rückschlüsse auf die Denkweise der Verantwortlichen zulässt. Am 26. April flog die Geschichte auf mit einem Bericht in der Berner Zeitung BZ. Pikantes Detail: Die Polizei hatte "noch im Februar die Existenz weiterer Karteien abgestritten".
Schwulenorganisationen spannen zusammen
Der Skandal war perfekt. Fast genau zehn Jahre nach der polizeilichen Erklärung, die Registrierung werde abgebrochen und die Einträge gelöscht, kam durch eine Indiskretion an die Öffentlichkeit, was die Kantonspolizei bis jetzt unbeirrt weiter getan hatte. Die beiden Berner Organisationen HAB und Ursus Club zusammen mit der SOH schlossen sich zu einer Task-Force zusammen und wandten sich sowohl an die Kapo Bern wie an die Öffentlichkeit. Man war im Recht und wehrte sich. Dennoch konnten nur nach mühsamen Verzögerungen einige der klaren Forderungen durchgesetzt werden. Eine Entschuldigung oder eine automatisch angebotene volle Einsicht der Betroffenen in ihre Meldekarten, gar eine Wiedergutmachung erfolgte nicht. Das Ganze wurde ad Acta gelegt und ist allmählich still entschlafen.
Mehr zu diesem Krimi hier und in den nachfolgenden Webpages:
Böses Erwachen
Schnelle Reaktion
Generalversammlung des Vereins schwulengeschichte.ch verschoben
hpw. Aufgrund der Corona-Krise muss die Generalversammlung des Vereins schwulengeschichte.ch bis auf weiteres verschoben werden. Wir beobachten wie alle anderen Vereine die weiteren Entwicklungen und werden entsprechend handeln. Der Vorstand des Vereins schwulengeschichte.ch wünscht euch allen von Herzen gute Gesundheit.
Gerade in diesen Zeiten, wo wir alle zu Hause bleiben müssen, hilft die Fülle der Informationen auf schwulengeschichte.ch, manche Stunde mit spannender und auch lehrreicher Lektüre zu füllen. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, Mitglied zu werden?